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#11 SUNDAYS… Wer ist man, wenn man nicht mehr ist, wer man ist.

Gestern Mittag fuhr ich zum Aldi. Ich wollte noch ein paar Sachen einkaufen – Klopapier fehlte, und was eben sonst noch so an einem Wochenende anfällt.

Alles fühlte sich an wie in Zeitlupe, einfach irgendwie schwer. Ich blieb zehn Minuten im Auto sitzen, bevor ich mir den Einkaufswagen schnappte.

Irgendwie war es recht leer, und ich stand alleine an der Kasse. Die sehr freundliche Kassiererin gab mir zu verstehen, ich müsse mich nicht stressen und könne in Ruhe meine Einkäufe aufs Band packen. Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich ihr freundlich zurückantwortete und einfach vor mich hin funktionierte. Es war ein bisschen so, als hätte ich in dem Moment die Verbindung zu mir selbst verloren.

Ich schob den Einkaufswagen zum Auto, und während ich alles in meine Tasche packte, wurde mir schlecht. Mein Herz raste, Schweißausbruch. Ich setzte mich ins Auto, schloss die Tür und war froh, dass die Sonne genug Wärme ausstrahlte, um einen Moment zu verweilen.

Dieser Moment im Aldi und danach am Auto war ein sehr bekanntes Gefühl. Ganz intensiv hatte ich das nach meiner Reha 2013, als alle Welt erwartete, ich sei wieder gesund, und mir der Weg zurück in den Alltag alles abverlangte.

Der Unterschied zu 2013 ist: Ich kann diese – sehr deutlichen – Warnzeichen einordnen und habe eine Chance, damit umzugehen. Das ist nicht minder herausfordernd und trotzdem deutlich beruhigender für mich, da ich weiß, an welchem Punkt ich eine Grenze nicht überschreiten darf.

Ich sagte alle Verabredungen und Termine für dieses Wochenende ab. Ich hatte mir das bis zu diesem Supermarkt-Moment nicht zugestanden. Für mich war das wie eine Kapitulation vor mir selbst. Als hätte ich mein Leben nicht im Griff, wenn ich so etwas sage wie: „Ich kann gerade nicht – ich brauche einen Moment Selbstfürsorge.“

Aber mir war nur danach, meine Zeit in meinen eigenen vier Wänden zu verbringen, ohne mich erklären zu müssen – vor mir selbst und allen anderen. Ich brauchte meinen eigenen geschützten Raum und … die Anwesenheit von Luca, Melina und den Hunden.

Als mir das bewusst wurde, wurde mir auch klar, was eigentlich – auf emotionaler Ebene – gerade alles so los ist und dass ich das viel zu oft mit einem Lächeln und blöden Witzen wegwische. Aber auch das ist ein Teil meiner Selbstfürsorge. Denn wie will man denn im Alltag funktionieren, wenn man sich nicht hin und wieder vor den eigenen dunklen Gedanken schützt?

Während ich im Auto saß, vor Aldi, und meinen Gedanken nachhing, alles absagte und vor lauter Erleichterung ins Lenkrad heulte, wurde mir klar, dass in drei Wochen niemand mehr einfach so zu Hause ist. Dass diese Sicherheit – jemand ist da – einfach wegbricht. Das dieser Teil meines Lebens Ende und Anfang gleichermaßen bedeuten. Und ich weiß noch nicht, wer ich ohne diesen Teil meines Lebens bin.

In dieser Wohnung war in den letzten neun Jahren immer Bewegung. Manchmal so viel, dass es mir echt auf den Sack ging, und ich mich nach Momenten des Alleinseins sehnte. Aber schon, wenn ich solche Gedanken hatte, wusste ich, dass der Tag kommen würde, an dem ich die Zeit zurückdrehen möchte. Dass mir diese Bewegung fehlen wird. Es geht dabei gar nicht darum, dass wir hier qualitativ viel Zeit miteinander verbringen, sondern eher darum, dass jemand da ist und sich kommunikative Situationen von selbst ergeben, ohne dass man sie vorher verabreden muss.

Alles daran ist richtig. Ich liebe es, den beiden zuzusehen, wie sie in ihr gemeinsames Leben starten und sich um ihre eigene Achse drehen. Gleichzeitig bin ich 47 und habe verlernt, mich um meine eigene Achse zu drehen.

Ich bin wütend. Und auch das möchte ich mir endlich mal zugestehen. Ich bin wütend darüber, dass ich den Erziehungsauftrag allein hatte – kein anwesender Vater, keine Großeltern, nichts und niemand. Und das geht zu irgendwelchen Lasten. Irgendwann und auf jeden Fall. Keine Chance, sich irgendwo anzulehnen und einfach mal fallen zu lassen. Na klar kann ich mir auf die Schulter klopfen und mich für Stärke und Mut bewundern, aber im Leben geht es nicht nur darum. Niemand kann dauerhaft stark und mutig sein. Wir brauchen einen Gegenpol und den hatte ich fast 10 Jahre nicht und auf diesem Weg gibt man ein großes Stück sich selbst auf.

Der Auszug meines Sohnes, der sehr plötzlich kommt, ist aber auch ein notwendiges Signal an mich selbst. Es ist an der Zeit, alles auf links zu drehen. Ich mache das bereits seit gut zwei Jahren, und das ist wie eine Metamorphose auf allen Ebenen. Die Zeit des „Ich kümmere mich um andere“ ist vorüber. Das war ein schleichender Prozess, und nun stehe ich mit voller Wucht vor mir selbst und weiß noch nicht so richtig, wohin mit mir. Das ist ziemlich beängstigend. Aber auch ziemlich befreiend.

Den meisten Respekt habe ich vor meiner eigenen Konsequenz. Meist bin ich da sehr deutlich und ungeschminkt. Und so weit meine Empathie und Liebe gehen, so weit geht eben auch die andere Seite von mir, wenn ich mir im Klaren darüber bin, meine wertvolle und verbleibende Zeit nicht verschwenden zu wollen.

Möchte ich an dieser Klarheit mir und anderen gegenüber etwas ändern? Nein. Das ist es, was sich langsam an die Oberfläche gräbt und mir selbst entspricht. Raus aus der Defensive. Ich kann mich gut für andere in den Dreck werfen, aber nicht für mich selbst. Das lerne ich gerade, und es fällt mir ganz schön schwer.


Wie möchte ich weitermachen?


In jedem Fall mit Ruhe und Besonnenheit.

Ich möchte mit Freude all diesen neuen Situationen begegnen – trotz der Ängste, die mich dabei begleiten, und der Tränen, die dabei fließen werden. Ich fiebere dem Tag entgegen, an dem ich meine Wohnung einer Familie übergeben kann, die sie dringender braucht. Damit schließe ich ein Kapitel (ein ganz wundervolles) endgültig ab und begebe mich auf meine ganz eigene Reise – eine, in der es keine klassisch gesellschaftliche Norm mehr gibt. Denn ich muss mich beruflich nicht mehr neu erfinden und keine familiäre Entscheidung mehr treffen. Es geht tatsächlich nur um mich. Ziemlich verrückt, oder?

Nachdem ich gestern Nachmittag nach Hause kam, habe ich im Anschluss fast nur geschlafen – bis heute früh. Es war ein überwältigend gutes Gefühl, mir die Erschöpfung zuzugestehen. Neben Job und Alltag standen Küchenplanung, Umzugsplanung und Handwerkerplanung an. Zudem war der Vater meines Sohnes vor Ort. So gut, wie ich damit umgehen kann, so deutlich ist auch immer noch die ein oder andere Verletzung, und das ist mental oft sehr anstrengend.

Wir können nur etwas verändern, wenn wir formulieren, was in uns vorgeht. Wenn wir über Gefühle und auch unsere Ängste sprechen. Das schafft Verbindung und Verständnis und im besten Fall Klarheit und Lösungsansätze, die wir im eigenen Tempo angehen dürfen.

Die Reaktionen nach meinen letzten beiden Instagram-Postings waren überwältigend und zeigen, wie viele von uns mit ganz ähnlichen Situationen struggeln. Aber nicht alle haben diese Reichweite. Also gehört es mit zu meinen Aufgaben, mich an die erste Linie zu stellen, das Miteinander aufzuweichen und sichtbar zu machen, was sich hinter vermeintlicher Stärke und Mut verbirgt.

Ich wünsche euch den allerschönsten Sonntag und bin sehr dankbar für die vielen Frauen, die mich schon seit Jahren begleiten und ein Teil dieses Prozesses sind. Es ist ein bisschen so, als dürften wir uns gegenseitig zuhören, wachrütteln und daran wachsen.

Das Leben ist ein ziemlich dynamisches Ding und auch heute nehme ich dieser Dynamik ihre Wucht mit Ruhe und Schlaf.

Andrea

4 Kommentare

  • Ulrike

    Liebste Andrea, ich habe jetzt gerade Tränen in den Augen und kann so gut mitfühlen. Was ich dir auf den Weg geben kann ist es zuzulassen und die Gewissheit zu haben es wird besser.

    Vor knapp 10 Jahren stand ich an der selben Stelle wie du, ich bin verwitwet und meine Tochter ist damals mit ihrem Freund zusammen gezogen. Da war dann diese Leere nicht nur in mir drinnen sondern auch das leere Zimmer. Auf der einen Seite war ich froh, dass sie den Sprung geschafft hatte aber auf der anderen Seite diese Zweifel war es die richtige Entscheidung funktioniert das mit den beiden, komme ich mit der Situation zurecht?

    Ich bin damals in einer Affäre gefangen gewesen und dachte wenigstens das gibt mir Halt aber die Folgen davon habe ich heute noch zu tragen (ich habe kein Vertrauen mehr in die Männer und wenn mich einer anspricht bekomme ich Angst …). Ja, natürlich bin ich selbst daran schuld hätte es ja beenden können aber ich habe ihn geliebt und da war die Angst vorm Alleinsein.

    Ich habe dann angefangen Tagebuch zu schreiben und meine Wünsche eingetragen… durch Zufall habe eine neue Wohnung gefunden fast genauso wie ich sie mir ausgedacht hatte. Die Affäre konnte ich mittlerweile auch beenden und bin seit 2 Jahren alleine und kann gut damit umgehen. Wenn ich meine Freundinnen so höre die schon seit vielen Jahren verheiratet sind und wie sie über ihre Männer schimpfen dann denke ich mir, Jo, ich kann mich heute Abend auf die Couch legen und muss nichts kochen. Ja, mir fehlt auch das in den Arm genommen werden und das Kuscheln aber es ist halt nicht da. Hatte mich auch auf einer Dating Plattform angemeldet und gemerkt nö, das will ich auch nicht, ist mir zu anstrengend und was will ich mit einem Menschen aufbauen der 200 km weiter weg wohnt? Und ne Affäre? Nein Danke!!!

    Natürlich gibt es Tage an denen es mir nicht gut geht – Herzrasen, Übelkeit, Schwindel – ich lasse es zu, höre Musik und starre aus dem Fenster. Ich mag dann auch nicht raus und keine Menschen sehen, das ist mir dann alles zuviel. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen … in knapp 2 1/2 Jahren gehe ich in Rente … ob ich mich darauf freue? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es wird einen Weg geben den ich dann einschlagen werde.

    Puh, das waren jetzt so meine Gedanken die mir spontan eingefallen sind und ich eigentlich damit sagen wollte, Andrea du bist nicht alleine und loslassen ist nicht immer einfach aber man wächst daran.
    Alles Liebe du gute Seele!
    Ulrike

  • Maria

    Guten Morgen!
    Wow, was für ein toller Bericht mitten aus dem Leben!
    Ich kann das so nachvollziehen – unsere beiden Jungs sind auch fast gleichzeitig aus dem Haus. Der Jüngste wollte das gleiche machen wie der Ältere: ein duales Studium, bei dem er direkt Geld verdient.
    Lukas war dabei immer alle 3 Monate Zuhause – aber Erik hat Arbeit und Studium beides in Heidelberg. 3,5 Std Fahrt 🙈

    Auf einmal sitze ich im Auto und mir wird bewusst, dass unser „Kleiner“ bald nicht mehr da ist. Da fließen die Tränen.
    Kurz danach sxhmiedet Lukas Pläne, um mit seiner Freundin zusammen zu ziehen – zwar in Düsseldorf, 1 Std Fahrt – aber trotzdem ist er erst mal weg!

    Ich finde es so toll, dass du uns hier den Raum für deine Gedanken und zum Austausch gibst.
    Das ist Gold wert!
    Und ich bin dankbar, dass ich daran teilhaben darf und dass ich dich hier gefunden habe!

    Ich wünsche dir den allerschönsten Sonntag! 😘
    Herzliche Grüße
    Maria

    P.S. Ich habe mich gestern noch mit einer Mutter über Vorlesen, Kuscheln, Schulwechsel usw. unterhalten. Sie schaut mich mit große Augen an: Deine Jungs sind schon 20 und 22? Meine Kinder sind 4 und 8.
    Ich sagte ihr, dass sie jeden Augenblick aufsaugen sollte. Die Zeit geht so schnell vorbei.
    Ich weiß, blöder Spruch – aber leider ist er wirklich wahr.

  • Daniela

    Liebe Andrea,
    du hast es selbst gesagt
    „Wir können nur etwas verändern, wenn wir formulieren, was in uns vorgeht. Wenn wir über Gefühle und auch unsere Ängste sprechen. Das schafft Verbindung und Verständnis und im besten Fall Klarheit und Lösungsansätze, die wir im eigenen Tempo angehen dürfen“.
    und du wirst es mit viel Empathie, Liebe und Mut für dein wunderbares Leben weiterhin tun.
    Ohne funktionieren müssen, mit deinem Tempo und nur für dich.
    Alles Liebe weiterhin wünsch dir Daniela

  • Celia

    Liebe Andrea,
    ich lese und kommentiere immer wieder bei Dir und erkenne mich immer wieder. Sowohl mental, ästethisch als auch psychisch. Diesmal hast Du schon mit der Überschrift meinen Gemütszustand auf den Punkt gebracht. Ich weiß gerade nicht wer ich bin und ich wer ich sein möchte. Der Hintergrund dazu: geschieden seit 16 Jahren, alleinerziehend (Wochenend-Papa ohne größerem Interesse an der Entwicklung der Kinder), 2 Töchter (ausgezogen vor knapp 2 und 3 Jahren), 10 Jahre in einer Fernbeziehung zwischen Deutschland und Belgien und Anfang des Jahres ist mein „Mann“ plötzlich und unerwartet verstorben. Die ersten Monate nach seinem Tod waren gefüllt von Trauer und Schwere, aber auch viel zu organisieren und zu machen. Ich habe nach 14 Tagen wieder gearbeitet und fast 3 Monate durchgehalten, um dann seelisch zusammenzugeklappen. Mit Hilfe einer Trauerbegleitung und meiner eigenen Einkehr bin ich wieder „stabil“, auch wenn die Trauer immer noch da ist. Jetzt frage ich mich, nach den Jahren des Loslassens, auch des Loslassens von Lebensvorstellungen und -idealen, nachdem ich immer für alles da war und mich zurückgenommen habe, nach jahrelanger Verantwortung für das Fortkommen von zwei Menschen…wer bin ich jetzt? Plötzlich alleine, ohne die Anwesenheit von Kindern und Lebensmensch? Was will ich noch? Ich bin 57 Jahre und behaupte mal im Geiste jung. Die Menopause hat mich zwar gebeutelt, aber ich habe es weitestgehend überstanden. Ich habe einen guten Freundeskreis, die mich auch in den schwersten Zeiten getragen haben, aber auch die haben ihre Familien und Zeitnöte. Nun denke ich ständig daran, was ich mit meiner Zeit, im Sinne von erfüllter Zeit, noch anfange. Ich reise gerne, ich bin gerne unter Menschen, aber kann auch gut allein sein bzw. muss hin und wieder für meine Seele allein sein. Wo geht mein Weg hin? Wie kann ich in bereiten? Manchmal überkommen mich Ideenfetzen, wie alles verkaufen und durch die Welt zu reisen. Ganz von vorne anzufangen. An einem anderen Ort. Und dann bemerke ich, wie verwurzelt ich hier bin. Meine Kinder würden mir fehlen. Also mache ich ganz klitzekleine Schritte und finde mich wieder in Deinen Schlussworten. Ich gehe meinen Weg mit Ruhe und Besonnenheit. Und werde auf mich aufpassen. Vielleicht reise ich ja mal nach Leipzig und schaue mir all die schönen Ecken an, die Du uns immer zeigst. Oder London. Oder Südafrika. Oder Oder Oder. Danke Andrea. Für Deine Ehrlichkeit. Für Dein Du-Sein. Ungeschminkt. Verletzlich. Aber wie ich finde (und dies seit Jahren von ausßen betrachtet) auf einem guten Weg.
    Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag und by the way: die Weihnachtskugeln sind klasse! Kompliment an Deine Mäuse.
    Fühl Dich umarmt aus der Ferne.
    Celia

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